Die Kritik an DSM

  1. Der Traum von Evidenz
  2. DSM in 5 Varianten
  3. Die Kritik an DSM
  4. Der gespaltene Mensch
  5. Die Soldaten mit PTSD
  6. Was kommt auf uns zu?

Dies ist Blogeintrag drei einer Serie von sechs. Sie können auf die anderen Einträge zugreifen, indem Sie oben auf ihre Titel klicken.

Die Schuld dieser bedauerlichen Entwicklung ist nicht nur den Redakteuren des DSMs zuzuschreiben.  Ein Blick auf die Einleitung des DSM-IIIs reicht. Dort stehen die Warnungssignale klar und deutlich formuliert. Es wird ausdrücklich betont, dass das Manual in erster Linie wissenschaftlichen und nicht klinischen Zwecken dient. Man warnt ausdrücklich vor der Anwendung des Manuals als Nachschlagebuch oder aber als Schlüsselliste. Die Dringlichkeit einer umfassenderen Auswertung wird hervorgehoben, und gleichermaßen sollen z.B. Menschen mit Schizophrenie und nicht-schizophrene im Mittelpunkt stehen.

Nichtsdestotrotz verletzt die Redaktion versehentlich die Prinzipien der Aufklärung, die besagen sowohl die Würde des Individuums zu berücksichtigen als auch dringend Raum für sorgfältige Überlegungen zu lassen. War es nicht zu erwarten, dass ein Projekt, das Kategorien (auch mit der Ergänzung eines dimensionalen Aspektes) den absoluten Vorrang vor Konflikten gibt, unabwendbar zu einer Zunahme der Konflikte führen würde, und ist dies nicht genauso riskant auf der mentalen Ebene wie es die Jahre vorher auf der politischen Ebene war? Offensichtlich wurde es nicht so gesehen und es tut wenig zur Sache, dass Spitzer Jahrzehnte später, kurz bevor er in Rente gegangen ist, selbst die Manuale kritisierte und die Meinung vertrat, dass sie zu einer Psychiatrisierung von 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung geführt habe, die ansonsten als „innerhalb des Normalbereichs“ eingestuft wurden, geführt haben. Seiner Meinung nach besteht das Problem darin, dass das DSM-System die Definitionen der mentalen Störungen operationalisiert ohne Rücksicht auf den Kontext in dem sich die Symptome zeigen.

Es ist ironisch, dass die Redaktion des DSMs glauben konnte, dass ihre Warnungen irgendeinen präventiven Effekt haben könnten. Schon in DSM-I und DSM-II (die psychodynamischen Versionen) waren ähnliche Warnungen zu lesen. Dieses hinderte die Psychiater dieser Zeit nicht daran erheblich überzudiagnostisieren im Vergleich zu Psychiatern im Rest der Welt. Genauso werden neurotische und psychotische Probleme karikiert, indem man z.B. Symptome als Zeichen eines durch unbewusste Homosexualität verzerrten Ödipuskomplexes, erklärt hat, ohne vorherige genauere Untersuchung der betreffenden Patienten.

Mit DSM-III hofften die Psychiater wissenschaftlichere Rahmen, die zu einer größeren Sorgfalt anregen sollten, vorgegeben zu haben. So ist es nicht gekommen. Es ist den angeblich wissenschaftlichen DSM-III, DSM-IV und letztens DSM-5 nicht gelungen den Missbrauch der Diagnose-Etikettierung zu beschränken. Im Gegenteil, die Verbreitung dieser Vorgehensweise hat explosiv zugenommen. Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass Psychiater in der ganzen Welt jetzt überdiagnostizieren.

Die Ernsthaftigkeit der Lage ist nicht zu übersehen und wie erwartet ist die Kritik ja auch lauter geworden als Folge des vor kurzem herausgebrachten DSM-5. Die jetzige Kritik – mit der Beteiligung mehrerer ehemaliger Redakteure des Manuals – könnte jedoch dem unbefangenen Leser den Eindruck vermitteln, dass die Schwierigkeiten neueren Datums sind und dass es sich einfach um ein entgleistes, wissenschaftliches Projekt handelt. Die Ursache dieses Mischmasches wurde jedoch schon von Anfang an direkt in das DSM-III mit eingearbeitet. Und hier ist es, dass die PTSD-Diagnose den Status des Paradigma erhält.

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2014-11-10, deutsche Version 2018-03-07